31.03.2011
An diesem Morgen war mir schon bevor ich die Augen oeffnete klar, dass mir der koerperlich anstrengendste Tag meines Lebens bevorstehen wuerde, deshalb liess ich sie vorsichtshalber auch eine ganze Zeit lang weiter geschlossen.
Von Lumde, ueber den Renji Pass nach Gokyo.
1.000 Hoehenmeter hinauf, 600 hinunter.
Mein Plan: rauf – runter -fertig.
Das Ergebnis: rauf -fertig -runter – fix&fertig.
Alles hatte damit begonnen, dass der Durchfall der letzten Tage meine ohnehin nur unzureichenden Kraftreserven massiv angegriffen hatte. Zu einer guten Akklimatisierung muss ich aber grosse Hoehen ueberwinden. Und so startete ich in den Tag der Leiden mit leeren Batterien. Schon nach wenigen Schritten war mir klar, diese Herausforderung wurde ich niemals mit den Beinen, sondern ausschliesslich mit dem Kopf bewaeltigen koennen.
Keinen Moment durfte ich den Fettstoffwechselbereich meines Koerpers verlassen und den nicht vorhandenen Kohlenhydratspeicher angreifen. Trotzdem war nach nichteinmal zwei Stunden voellige Leere in meinen Oberschenkeln. Theo versuchte mich mit einem Wundermittel, das noch nicht im Verkauf erhaeltlich ist, wieder auf die Beine zu bringen und tatsaechlich, fuer eine gute Stunde hatte ich Kraft und sogar Spass am Gehen.
Doch dann begann sich der Pfad immer steiler und steiler nach oben zu winden. Mit winzigen Schritten versuchte ich mit den letzten Kraftreserven hauszuhalten, doch wie eine unueberwindliche Mauer aus Stein stand der Renji Pass vor mir.
Ich musste mich irgendwie ueberlisten, sonst wuerde ich es nie schaffen. Positive Gedanken sind der Schluessel zu allem dachte ich mir! Zuerst dachte ich an Sex, aber das war allzu schnell vorbei. Dann die naechsten Stereotypen: Sonne, Meer, Sandstrand – auch schnell langweilig. Waehrend ich auf meine staubigen Wanderschuhe starrte, die sich in Trippelschritten nach oben bewegten, machten sich meine Gedanken selbstaendig.
Das Bild war dasselbe wie zuvor, staubige Bergschuhe die sich vorwaerts quaelten, doch der Untergrund hatte sich veraendert. Es war dieses blaugraue Linoleum, das ueber tausende Kilometer in Krankenhaeusern und Seniorenheimen verlegt ist. Ploetzlich hoere ich von hinten das Tapsen nackter Fuesse auf ebendiesem Linoleum, begleitet vom regelmaessigen Quietschen eines unwuchten Rades.
Da kommt auch schon ein Greis mit seiner vierraedrigen Gehhilfe an mir vorbeigeschossen, schneidet mich, sodass ich in meinem konstanten, konzentrierten Schritt innehalten muss und verschwindet mit einem zahnlosen Grinsen in der Tuer des naechsten Schwesternzimmers. Beim um die Ecke schlittern oeffnet sich das schlecht geknuepfte Nachthemd und entbloesst einen bleichen, eingefallenen Maennerarsch, dem auch Jahrzehnte von Bauch, Bein, Po zu keiner bleibenden Gestalt verhelfen konnte. Was die duenne Luft mit dem menschlichen Gehirn so alles anstellt…
Ich schrecke aus meinen Gedanken hoch, wieder steht mir ein Aufstieg ueber diese giftigen Steinstufen bevor, die mir das Letzte abverlangen. Sie sind so hoch, dass ich mich nicht einfach vorbeischwindeln kann, jede Stufe fordert ihren Tribut.
Seit diesem Morgen begleiten mich, wie zwei Schutzengel, Tsandra und Ngima, der ein Sherpa traegt meinen Rucksack, der andere ist immer in Griffweite hinter mir, falls ich stolpern, oder straucheln sollte.
Nach sieben Stunden ist es soweit: ich habe es fast geschafft, ich bin auf mehr als 5.300 Meter Seehoehe, nicht einmal 100 Meter unter dem Pass.
Doch dann steht sie vor mir: schier unueberwindlich die „stairway to heaven“ weit mehr als 150 Stufen. Ich bin verzweifelt.
Tsandra und Ngima schmieren mir ein Ciabatta mit Honig: „it’s good for the legs“ sagen sie aufmunternd, doch ich brauche viel mehr als als etwas Teig und Honig um diese Stufen zu ueberwinden.
In meiner Verzweiflung keimt ein Gedanke in mir: ich koennte es so wie mit meinen Kindern machen, als sie noch ganz klein waren und partout nicht essen wollten: Ein Loefferl fuer den Papa, ein Loefferl fuer die Mama – nur eben andersrum.
Das Ergebnis ruehrt mich fast zu Traenen: Philipp und Sophie bringen mich jeweils ueber 25 Stufen, voellig erschoepft und mit rasselndem Atem bleibe ich stehen. Dann sind der Rest der Familie und spaeter Freunde dran. Es ist faszinierend wie weit micht der Eine oder wie wenig weit mich die Andere bringt. Der Fairness halber muss ich sagen, dass die Stufen unterschiedlich hoch sind.
Und nein, ich werde jetzt kein Ranking veroeffentlichen.
Als ich den Pass erreicht habe, ist keine Rede von der angeblich so herrlichen Aussicht, im Nebel sehe ich keine 20 Meter, aber ich bin der gluecklichste Mensch der Welt.
Der Abstieg von drei Stunden geht wie von selbst. Als ich mein Zimmer betrete, liegt mein Schlafsack bereits ausgebreitet auf dem Bett.
That’s teamspirit.